Ich bin
im "Tagesanzeiger" auf einen guten Artikel gestoßen, in dem der
emeritierte Professor für Psychiatrie Allen Frances Kritik an „der
Bibel der psychiatrischen Diagnose“, dem DSM-5, übt. Interessant
ist, dass er selbst an der Vorgängerversion, dem DSM-4, maßgeblich
beteiligt war. Jetzt kritisiert er die Weiterbearbeitung: „Hier kommt
es zu einer Hyperinflation von psychiatrischen Diagnosen und viele
Menschen werden daher mit Psychopharmaka behandelt, denen es ohne
Behandlung oder mit Psychotherapie besser ginge.“ Das ist dann
doch eine heftige Aussage.
Ich
stimme nicht mit allem überein, was Allen Frances in diesem
Interview sagt. Ich glaube z.B., dass es einen Zustand gibt, den man als
„Burn-out“ bezeichnen kann und dass dieser Zustand bei den
Betroffenen Leiden hervorruft und daher „behandelt“ werden muss.
Ob man diesen Zustand als Krankheit definieren und/oder mit
Psychopharmaka behandeln muss, ist eine andere Frage.
Einige
Gedankengänge finde ich aber sehr gut, besonders was er über ADHS
sagt: In einer kanadischen Studie (auf der Grundlage von Daten von 1
Mio Kindern) wurde festgestellt, dass die Kinder, die die jüngsten
in ihrer Klasse waren, am häufigsten den Diagnose ADHS „verpasst“
bekommen hatten. „Hier wird Unreife zur Krankheit.“ Da ist aus
meiner Sicht viel Wahres dran: Ich habe den Eindruck, dass der
Spielraum für „normales Verhalten“ immer enger wird, und zwar
bei Kindern und Erwachsenen. Manches, was früher noch toleriert
wurde – z.B. Depression als Trauerreaktion (früher gab es ein
ganzes Trauerjahr!) oder wilde Buben – wird heute an den Pranger
gestellt, als „auffällig“ beurteilt und als krankheitswertig
bezeichnet. Damit verbunden ist oft die Aufforderung, diesen Zustand
möglichst schnell zu beheben, am besten mit fachlicher Hilfe.
Dass
unterschiedliche Menschen unterschiedlich reagieren, sich
unterschiedlich verhalten und eben mehr oder weniger von der Norm
abweichen, wird gerne übersehen. Selbstverständlich gibt es
Menschen, die so weit abweichen, dass sie sich selbst schaden, sich
selbst/anderen Leiden zufügen oder andere in Angst und Schrecken
versetzen. Dort ist Therapie sinnvoll und unbedingt nötig.
Doch in
anderen Zusammenhängen ist Toleranz für die Vielfalt des
menschlichen Verhaltens gefordert. Außerdem sollten wir uns immer
wieder bewusst machen: Das Leben ist nicht linear und all unser
Fortschritt kann nicht verhindern, dass Schicksalsschläge über uns
hereinbrechen. Krankheit, Verlust, Trennung, Gewalt, Tod, Verlust des
Arbeitsplatzes usw. sind Gegebenheiten des Lebens, daran ist nicht
zu rütteln. Und auf diese Krisen darf jeder und jede so reagieren,
wie es ihr oder ihm angemessen erscheint. Auch wenn das für die
Mitmenschen anstrengend und belastend sein kann. Auch wenn wir
dadurch an die Grenzen der Machbarkeit erinnert werden.
Nichte
jeder Leidenszustand muss sofort behoben werden; nicht jeder
Leidenszustand braucht Therapie und Medikamente. Für manches reichen
Zeit und Kontakte mit nahestehenden Menschen. Dann kann man es
überstehen, durchleben, sich entwickeln – trotz Krisen und
Stolpersteinen. Oder auch gerade deswegen.
Hier das Interview zum Nachlesen.
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