Montag, 19. Mai 2014

Sind wir wirklich fast alle krank?

Ich bin im "Tagesanzeiger" auf einen guten Artikel gestoßen, in dem der emeritierte Professor für Psychiatrie Allen Frances Kritik an „der Bibel der psychiatrischen Diagnose“, dem DSM-5, übt. Interessant ist, dass er selbst an der Vorgängerversion, dem DSM-4, maßgeblich beteiligt war. Jetzt kritisiert er die Weiterbearbeitung: „Hier kommt es zu einer Hyperinflation von psychiatrischen Diagnosen und viele Menschen werden daher mit Psychopharmaka behandelt, denen es ohne Behandlung oder mit Psychotherapie besser ginge.“ Das ist dann doch eine heftige Aussage.

Ich stimme nicht mit allem überein, was Allen Frances in diesem Interview sagt. Ich glaube z.B., dass es einen Zustand gibt, den man als „Burn-out“ bezeichnen kann und dass dieser Zustand bei den Betroffenen Leiden hervorruft und daher „behandelt“ werden muss. Ob man diesen Zustand als Krankheit definieren und/oder mit Psychopharmaka behandeln muss, ist eine andere Frage.

Einige Gedankengänge finde ich aber sehr gut, besonders was er über ADHS sagt: In einer kanadischen Studie (auf der Grundlage von Daten von 1 Mio Kindern) wurde festgestellt, dass die Kinder, die die jüngsten in ihrer Klasse waren, am häufigsten den Diagnose ADHS „verpasst“ bekommen hatten. „Hier wird Unreife zur Krankheit.“ Da ist aus meiner Sicht viel Wahres dran: Ich habe den Eindruck, dass der Spielraum für „normales Verhalten“ immer enger wird, und zwar bei Kindern und Erwachsenen. Manches, was früher noch toleriert wurde – z.B. Depression als Trauerreaktion (früher gab es ein ganzes Trauerjahr!) oder wilde Buben – wird heute an den Pranger gestellt, als „auffällig“ beurteilt und als krankheitswertig bezeichnet. Damit verbunden ist oft die Aufforderung, diesen Zustand möglichst schnell zu beheben, am besten mit fachlicher Hilfe.

Dass unterschiedliche Menschen unterschiedlich reagieren, sich unterschiedlich verhalten und eben mehr oder weniger von der Norm abweichen, wird gerne übersehen. Selbstverständlich gibt es Menschen, die so weit abweichen, dass sie sich selbst schaden, sich selbst/anderen Leiden zufügen oder andere in Angst und Schrecken versetzen. Dort ist Therapie sinnvoll und unbedingt nötig.

Doch in anderen Zusammenhängen ist Toleranz für die Vielfalt des menschlichen Verhaltens gefordert. Außerdem sollten wir uns immer wieder bewusst machen: Das Leben ist nicht linear und all unser Fortschritt kann nicht verhindern, dass Schicksalsschläge über uns hereinbrechen. Krankheit, Verlust, Trennung, Gewalt, Tod, Verlust des Arbeitsplatzes usw. sind Gegebenheiten des Lebens, daran ist nicht zu rütteln. Und auf diese Krisen darf jeder und jede so reagieren, wie es ihr oder ihm angemessen erscheint. Auch wenn das für die Mitmenschen anstrengend und belastend sein kann. Auch wenn wir dadurch an die Grenzen der Machbarkeit erinnert werden.
Nichte jeder Leidenszustand muss sofort behoben werden; nicht jeder Leidenszustand braucht Therapie und Medikamente. Für manches reichen Zeit und Kontakte mit nahestehenden Menschen. Dann kann man es überstehen, durchleben, sich entwickeln – trotz Krisen und Stolpersteinen. Oder auch gerade deswegen.

Hier das Interview zum Nachlesen.

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