Diese Autoren sind Meister der Verallgemeinerung. Das schade, denn beim Lesen entsteht bei mir so eine Art Groll und dann nehme ich das, was an Richtigem gesagt wird, auch nicht mehr wahr und ernst.
5 Seiten gelesen – und schon die erste Irritation. Die Autoren schreiben über Talente-Scouts im Sport – und relativieren dann ihren Nutzen, „weil gerade die weltbesten Fußballer keine überragende Körpergröße haben“. Hat ja auch keiner gesagt, davon war nirgends im Text die Rede. Und ich nehme an, dass die Fußball-Trend-Scouts das auch wissen und nicht nach Körpergröße auswählen.
So geht es munter weiter: Wer große Hände hat, ist begriffsstutzig. Sehr nett. Und zwar, weil sich schon im Mutterleib die Nervenverbindungen bilden und diese bei Personen mit großen Händen anders sind als bei Menschen mit kleinen Händen. Aha. Hier hätte ich gerne einen wissenschaftlichen Nachweis. Also dass Menschen mit großen Händen erstens ungeschickt und zweitens „schwer von Begriff“ sind. Und zwar quasi von Geburt an.
Oder: „Gerade unter den Menschen, die mit einer Behinderung ins Leben gehen, erbringen viele besondere Leistungen.“ Auch diese Aussage braucht m.E. einen Beweis. Natürlich gibt es „Menschen mit Handicap“, die Tolles leisten – aber sind es prozentual tatsächlich mehr als bei den „nicht-behinderten“?
Manche Menschen sind zu besonderen kognitiven Leistungen fähig – aber ihr analytisches Denken ist nur eine Kompensation für ihre Unfähigkeit, Gefühle zu erkennen. AHA. Das Klischee vom „sozial unfähigen Genie“ konnten sie natürlich nicht auslassen...
Interessant auch seine Erklärung für besondere Begabungen: Mozart – so sein Beispiel – wurde deswegen ein genialer Komponist, weil seine Mutter sich immer entspannt hat, wenn der Vater musizierte. So hat der kleine Mozart schon im Mutterleib gelernt, dass Musik „gut tut“, die entsprechenden Nervenverbindungen bildeten sich und daher hat er sich später selbst mit Musik beschäftigt. Kann sein oder auch nicht. Müsste man nachweisen, dass viele Komponisten/Musiker auch musizierende Eltern hatten.
Und dann soll er mir bitte nach diesem Muster erklären, wie kognitive Hochbegabung entsteht!
Wenn man über diese Schwächen und das absolute Fehlen von Fußnoten und Referenzen (auch für Zitate) hinwegsieht, entdeckt man vieles, wo das Buch Recht hat. Zum Beispiel, dass jedes Kind das angeborene Bedürfnis nach Bindung an eine Bezugsperson hat. Dass jedes Kind mit der Fähigkeit zu lieben auf die Welt kommt. Dass es sich in einer guten Beziehung besser lernt als ohne. Dass Kinder von Natur aus neugierig und kreativ sind. Usw. Aber nichts davon ist neu – und nichts davon wird irgendwie stichhaltig belegt. Im Großen und Ganzen erzählt er, was jeder an seinen Kindern beobachten kann.
Auch auf gesellschaftlicher Ebene erzählt er nichts Neues: Dass viele Ehen zerbrechen, dass es wenig Platz für Kinder gibt, wo sie spielen können, dass Eltern aufgrund ihrer Arbeitssituation im Stress sind usw. - all das ist hinlänglich bekannt. Da finde ich es wenig sinnvoll, mit diesen „Erkenntnissen“ Seite um Seite zu füllen.
Dazwischen dann wieder ein Gedanke, wo ich sage: Ja, das stimmt – zum Beispiel, dass Kinder sich am besten entwickeln, wenn sie Vertrauen in sich selbst, in nahe Bezugspersonen und in die Welt an sich haben. Aber da fehlen mir dann die Ideen, wie man dieses Vertrauen in den Kindern stärken kann – und zwar eben unter den „Einschränkungen“, die das moderne Leben mit sich bringt. Da würde das Buch dann nützlich werden.
Mit Erkenntnissen aus dem modernen Leben (Bilderflut, Reizüberflutung, Verlust des Mitgefühls usw.) geht es durch den Mittelteil des Buches – dann endlich, das letzte Kapitel: Für ein Leben in Fülle: Was unsere Kinder wirklich brauchen? Kommt jetzt endlich, auf den letzten 15 Seiten etwas Hilfreiches? Etwas Alltagstaugliches? Leider nein, ich habe nur wenige Sätze gefunden, die uns nun sagen, was geschehen soll: Nämlich Wut-Eltern werden und uns gegen das wehren, was unseren Kindern zugemutet wird. Aha. Über das Wie schweigen die Autoren. Die zweite konkrete Idee: Schulen sollen so werden, dass den Kindern Vertrauen, Ermutigung und Wertschätzung entgegengebracht wird. Ja, da bin ich auch dafür – doch auch hier fehlen die konkreten Ideen.
Auf den letzten Seiten schildern die Autoren von einem „Experiment“ mit 11 ADHS-Kindern, die einen Sommer lang auf einer Selbstversorgeralm lebten. Es ist schön zu hören, wie sich diese Kinder dort positiv entwickelt haben, und das illustriert die Formbarkeit der (kindlichen) Persönlichkeit. Viel interessanter und mit einem Nutzen für deutlich mehr Kinder wäre es aber, wenn die Autoren ein paar konkrete Vorschläge hätten, was Eltern (und Lehrer) nun denn KONKRET tun können, damit Kinder in der Welt, in der wir nun eben leben, ihr Ur-Vertrauen, ihr Mitgefühl und ihre Kreativität nicht verlieren.
PS: Auch wenn man es wegen des Titels erwarten würde: Kognitive Hochbegabung im Sinne von „IQ ab 130“ kommt im Buch nirgends vor.
PPS: Ich habe schon lange kein Buch gelesen, in dem derart viele Ein- und Zweiwortsätze vorkamen. Das fand ich extrem mühsam. Außerdem hätten einige Querverweise und Referenzen auf andere Bücher/ Studien der Wissenschaftlichkeit und der Glaubwürdigkeit gedient.